Europas Spitzenkandidaten: kurios… und spannend!

Ein Spitzenkandidat jagt im Moment den anderen. Die Liberalen einigen sich auf eine „ungleiche Doppelspitze“ (http://www.tagesschau.de/ausland/europawahl-liberale100.html), die Grünen eine zwar nicht ungleiche, aber dafür aufgrund mangelnder Primary-Beteiligung kaum legitimierte Doppelspitze.  Die Sozialdemokraten haben sich auf Martin Schulz festgelegt, die formelle Bestätigung des Kandidaten ist nur noch Formsache. Ziel alle Bemühungen ist, das immer noch höchste Amt in den EU-Institutionen, das des Kommissionspräsidenten zu ergattern. Nur die größte der politischen Sippschaften, die Europäische Volkspartei, zögerte lange und überlegte gar, sich der Personalisierung des Wahlkampfes zu verweigern. Nun soll schließlich doch am 7. März in Dublin ein potenzieller Nachfolger für Manuel Barroso bestimmt werden.

Das Ganze ist sowohl kurios als auch spannend. Kurios, weil die meisten EU-Bürger die Spitzenkandidaten gar nicht wählen können, schließlich handelt es sich bei der Europawahl technisch gesehen eher um 28 einzelne nationale Wahlen. Dies mag man noch als kleingeistigen Einwand zurückweisen, schließlich werden sich die einzelnen Gliederungen der Parteienfamilien mehr oder weniger zu ihren Spitzenkandidaten bekennen. Und selbst wenn sie es in einigen Fällen bewusst nicht tun werden, angenommen zum Beispiel, weil ein deutscher Kandidat in Griechenland nicht sonderlich populär sein kann, wird der politische Gegner (in diesem Fall die griechischen Konservativen) den Finger in die Wunde lege und die Öffentlichkeit aufmerksam machen.

Kurios ist allerdings auch die Begründung, warum die Europäischen Parteien sich berufen fühlen, bei dieser Wahl – anders als in der Vergangenheit – Spitzenkandidaten aufzustellen, nämlich durch eine kleine, eher rhetorische Änderung der im EU-Vertrag festgeschriebenen Spielregeln. Seit Lissabon heißt es hier: „Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament. Das Europäische Parlament wählt diesen Kandidaten mit der Mehrheit seiner Mitglieder.“

Ich bin kein Verfassungsrechtler, aber ich bezweifele, ob die „Berücksichtigung des Ergebnis der Wahlen“ in irgendeiner Weise rechtlich verbindlich ist. Hat sich durch den Lissabon-Vertrag wirklich etwas geändert? Aus der Perspektive der reinen Machtarithmetik war auch schon zuvor jeder Kommissionspräsident auf eine Zustimmung des Parlaments angewiesen. Gleichzeit ist auch im Jahr 2014 der Kommissionspräsident nicht auf die Parlamentarier, sondern immer noch ebenso auf eine qualifizierte Mehrheit der Staats- und Regierungschefs angewiesen. Qualifizierte Mehrheit heißt, dass eine kleine Gruppe Mitgliedsstaaten ihr Veto einlegen kann. Das alte Spiel – mächtige Mitgliedsstaaten verhindern, dass ein zu charismatischer, zu unabhängiger oder zu mächtiger Kommissionspräsident ins Amt kommt, kann also eigentlich auch dieses Jahr wieder gespielt werden.

Spannend ist die Macht des Faktischen – sind die Kandidaten erst einmal nominiert, werden sich die Staats- und Regierungschefs nicht entblöden können, diesen einfach wieder fallenzulassen. Europa wird also einen Kommissionspräsidenten – oder eine -präsidentin – bekommen, der nicht (nur) in Hinterzimmern ausgekungelt  wurde sondern der aus in einem fairen Wettstreit vor der EU-Bevölkerung als Sieger hervorgeht.

Als Sieger? Moment mal! Was heißt denn hier eigentlich Sieger? Dieser Tage liest man häufig, dass der Spitzenkandidat der Europäischen Partei, die bei den Wahlen am erfolgreichsten ist, der Kommissionspräsident werden muss. Es gibt wenig Zweifel daran, dass dies wie auch bei den letzten drei Europawahlen wieder die Europäische Volkspartei sein wird – seit der Osterweiterung sind die Sozialdemokraten in einem um neun Ex-Kommunistischen-Ländern, deren Gesellschaften vom Sozialismus, in welcher Form auch immer, erst einmal genug haben, erweiterten Union strukturell einfach zu schwach. Mit dem Rat gäbe es dann wenig Ärger, schließlich stellt die EVP die Mehrheit der Staats- und Regierungschefs.  Aber auch wenn sie als Erster ins Ziel kommt – die EVP wird weit von einer eigenen Mehrheit im EP weit entfernt sein. Was wenn eine Parlamentsmehrheit aus Sozialdemokraten, Grünen, Liberalen, vielleicht auch Linken zustande kommt, die den Kandidaten Schulz unterstützt und dem Europäischen Rat die Stirn bieten will? (Man könnte dies eine Koalition nennen, für einen Deutschen nichts Ungewöhnliches, für viele andere Europäer durchaus – daher auch der häufige gedankliche Schnellschuss „stärkste Partei“ = „automatischer Machtanspruch“).

 

Was passiert dann? Schwer zu glauben, dass die konservative Mehrheit der Staats- und Regierungschefs schnell klein bei gibt. Gar nicht unbedingt, weil man den Kandidaten Schulz nicht will, sondern viel mehr, weil es sich um eine symbolische Niederlage im pausenlosen Machtkampf zwischen Regierungen und Parlament handeln würde. Als gesichtswahrender Ausweg bietet sich an, die beiden anderen wichtigen zu besetzenden Ämter (Präsident des Europäischen Rates und Hoher Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik) mit Konservativen zu besetzen. Interessant wird auch die Rolle der Liberalen als möglicher Königsmacher. Ihre Unterstützung gibt es sicherlich nicht zum Nulltarif – vielleicht wird ihr Spitzenmann Guy Verhofstadt ja der nächste Parlamentspräsident?

Spannend an diesem Wahlkampf wird auch sein, wie die Spitzenkandidaten die unterschiedlichen Wünsche ihrer potenziellen Wähler unter einen Hut zu bekommen versuchen. Was in einem Land gut ankommt, stößt anderswo die Menschen vor den Kopf. Trauen sich die Spitzenkandidaten zu polarisieren oder werden sieversuchen sich möglichst auf nichts festzulegen und von europapolitischen Allgemeinplätzen gespickte Wahlkampfreden halten?

Besonders spannend wird dies für Martin Schulz. Das ist schon eine absurde Situation: Da könnte nach Walter Hallstein zum ersten Mal seit 46 Jahren wieder ein Deutscher die EU führen. Eigentlich ein Grund der SPD-das beste Wahlergebnis seit Willy Brandt zu verschaffen. Gleichzeitig ist Martin Schulz der Spitzenkandidat einer Europäischen Partei, die mit der Art der Bekämpfung der Schuldenkrise nicht einverstanden ist: Die SPE will mehr Solidarität, Investitionsprogramme, ein baldiges Ende der Austeritätspolitik eben. Will die SPE in Südeuropa punkten muss auch ihr Spitzenkandidat sich zu diesem Programm bekennen. Das wird in Deutschland nicht jeden begeistern und bisher hat die SPD auch nur in homöopathischen Dosen ein Abweichen von der merkelschen Sparpolitik gefordert. Dem Spitzenkandidaten geschuldet wird sich dies ändern müssen, sodass der Wahlkampf polarisiert spannend und inhaltsreich werden kann.

Keine schlechte Aussicht.

 

Nespresso-Attacke im Europäischen Parlament

Eines Morgens waren sie plötzlich da. Vor den Eingängen der Ausschusssitzungsräume hatten Unbekannte sie aufgestellt. Mannshohe, schwarze, mächtige Säulen. Nespresso-Kaffee-Säulen.

Diese neuen Kaffeemaschinen polarisieren das Parlament. Nespresso-Fans begaffen sie erst ehrfürchtig. Dann zapfen sich die ersten ihren Kaffee.  Wobei man sagen muss, dass die Geräte nicht leicht zu bedienen sind. Wo kommt das Geld rein, wo fließt der Kaffee raus? Mancher Abgeordnete ist auf die Hilfe seines Assistenten angewiesen. Der Espresso schmeckt dem Vernehmen nach gut, besser als die übliche Parlamentsbrühe, die während der Sitzungen gereicht werden.

Die Skeptiker-Fraktion hingegen heult auf: Dieser ganze Alu-Müll! Oder auch: Ausgerechnet Nestlé! Inbegriff des bösen global players. Die Aufregung ist groß.

Aus Nestlés Sicht muss der ungewöhnliche Vermarktungsort ein gelungener Coup sein: Nirgendwo sonst ist die Nespresso-Zielgruppe auf so engem Raum versammelt wie in den EU-Institutionen. Ich stelle mir zumindestens eine Gruppe von Menschen, bei der Apple eine Marktdurchdringung von 99 Prozent und Prada von 50 Prozent erreicht haben, als perfekte Nespresso-Zielgruppe vor. Falls die nicht alle schon eine Nespresso-Maschine zu Hause stehen haben…

Was aber hat eigentlich das Europäische Parlament davon? Auch wenn es im EP manchmal durchaus zugeht wie auf einer Messe, auf der jeder im Rahmen von „Ausstellungen“ seine Produkte präsentieren darf: Gefühlt wurde mit den schwarzen Kaffee-Türmen eine neue Ebene der Banalisierung des politischen Raums erreicht. Und das in einem Parlament, das manchmal durchaus noch darum kämpft, ernst genommen zu werden.  Was steckt dahinter? Gibt es Nestlé-Geld für den klammen EP-Haushalt ? Günstigeren Kaffee? Und wer hat das ganze entschieden? Die Parlamentsverwaltung? Die Abgeordneten? Die für die EP-Restaurant zuständige Privatfirma Sodexo?

Let’s get it started off-topic: Vive la Tunisie!

Gleich zu Beginn dieses Blogs widme ich mich undiszipliniert nicht der EU (keine Sorge, über die schreibe ich noch genug). Ich will über einen südlichen Nachbarn, über Tunesien schreiben, denn dieses Land begeistert mich heute. Ziemlich genau drei Jahre nachdem in Sidi Bouzid die Selbstverbrennung eines Gemüsehändlers den Startschuss für den arabischen Frühling gab und mit Zine el-Abidine Ben Ali der erste arabische Diktator zum Rücktritt und ins Exil gezwungen wurde, stimmt in Tunis eine Nationalversammlung über eine neue Verfassung ab. Mühsam, mit viel Streit, Artikel für Artikel, Tag für Tag. Der Ausgang ist ungewiss, aber Tunesien hat die Chance der Welt zu zeigen, dass die „arabellion“ nicht nur in den Bürgerkrieg (Syrien) einen failed state (Libyen) oder zurück zur Militärdiktatur (Ägypten) führen kann. Ich finde das großartig!

„Wie kann man da jubeln“, fragt sich jetzt sicherlich so mancher. Die Zustände in Tunesien sind doch alles andere als rosig. Und Ja: Die Verfassung ist noch längst nicht verabschiedet, das Land liegt wirtschaftlich immer noch am Boden und salafistische Terrorgruppen treiben ihr Unwesen.

Und die Verfassung ist nach westlichen Maßstäben weit davon entfernt perfekt zu sein. Zur Gleichberechtigung von Mann und Frau “ heißt es in Artikel 20 der neuen Verfassung  beispielsweise: „Die Bürger und Bürgerinnen sind gleich hinsichtlich ihrer Rechte und Pflichten. Sie sind, ohne jedwede Diskriminierung, gleich vor dem Gesetz.“

Klingt gut, aber liberale tunesische Verfassungsrechter wollte eigentlich eine Gleichberechtigung  im Gesetz, da nur so gesetzlich legitimierter Ungleichbehandlung wirksam ein Riegel vorgeschoben wurde. Ein entsprechender Änderungsantrag stieß auf den Widerstand der Islamisten. Sollte man jetzt enttäuscht sein? Auf keinen Fall! Diese Verfassung wird die modernste Verfassung der arabischen Welt werden und sie wird, wenn alles gut geht, von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen. Wenn auch die Islamisten der Nahda-Partei diesem Text zustimmen, ist dies nicht nur ein Zeichen bemerkenswerte Reife einer jungen, fragilen Demokratie, sondern dann ist das auch ein Zeichen dafür, dass ein Auseinanderfallen der Gesellschaft in Islamisten und Laizisten verhindert wurde, und eine Chance dafür, dass dieser vergleichsweise moderne Text gesellschaftliche Wirkung entfalten kann. Man sollte nicht vergessen, dass auch in Deutschland zur Zeiten der Verabschiedung des Grundgesetzes keine Rede von einer wirksamen rechtlichen Gleichberechtigung der Geschlechter sein konnte.

Der Verfassungs-Prozess war  unerträglich langsam (und ist es immer noch). Seit mehr als zwei Jahren arbeitet die verfassungsgebende Versammlung (bzw. häufig arbeite sie eben nicht,  boykottierten Parteien die Sitzungen, zankte man sich um Regierungsumbildungen, etc. ). Den Tunesiern geht das viel zu langsam. Das ist verständlich. Wir Europäer sollten aber in uns gehen, wenn wir von oben herab das Marschtempo kritisieren. Ein langes Menschenleben (81 Jahre) hat es gedauert, bis aus der französischen Revolution ein einigermaßen demokratischer Staat hervorging. Dreißig Jahre vergingen in Deutschland zwischen Novemberrevolution und halbwegs stabilen bundesrepublikanischen Verhältnissen. Und auch die jungen Demokratien in Mittel- und Osteuropa sind nicht vom Himmel gefallen sondern mussten und müssen mühsam erarbeitet und verteidigt werden.

Tunesien könnte Glück gehabt haben.

Glück, dass die Islamisten nicht wie in Ägypten die ganze Macht alleine bekamen – daran wären sie zweifellos gescheitert, denn die Wirtschaftskrise wäre ihnen allein angelastet worden und ihnen hätte dasselbe Schicksal wie den Moslembrüdern gedroht, mit der Konsequenz einer hasserfüllten, gespaltenen Gesellschaft.

Glück, dass es eine breite, gebildete Mittelschicht gibt, die den Wandel zivilgesellschaftlich treibt und stützt. Die jetzt stattfindende Abstimmung kam auf Druck eines Bündnisses aus Gewerkschaften, Arbeitgebern, der Menschenrechtsliga und der Vereinigung der tunesischen Anwälte zustande.

Glück, dass es den Terroristen nicht gelungen ist, die Demokratisierung zu torpedieren.

Wenn alles gut geht, Tunesien eine neue Verfassung bekommt, Neuwahlen friedlich über die Bühne gehen, ein stabiles Parteiensystem den Bürgern eine echte Auswahl bietet und die Pressefreiheit gewahrt wird, dann kann Tunesien so etwas wie ein Monument des arabischen Frühlings werden und als demokratischer Leuchtturm in Nordafrika anderen den Weg weisen. Wenn alles gut geht. Hoffentlich.

Willkommen auf Bruesselbe[r]ichte

Herzlich Willkommen auf meinem neuen Blog. Worum soll es hier gehen? Um einen subjektiven Blick auf die Europäische Union, von jemandem, der ein kleines Rädchen in der großen EU-Verwaltungsmaschine ist. Um Politisches und Menschliches. Um die anstehende Europawahl am 25. Mai. Und um alles, was mir sonst noch so in den Sinn kommt. Brüssel beichtet und berichtet. Nur Geduld, bald geht’s los…